Wie männlich oder weiblich ist Ihr Gehirn? – Machen Sie den Fingertest!

Um es gleich klarzustellen: Die Frage ist hier nicht, ob Sie ein Mann oder eine Frau sind. Sondern wie weiblich oder männlich Ihr Gehirn ist. Denn bloß weil Sie eine Frau sind, müssen Sie noch lange kein weibliches Gehirn haben – und umgekehrt. Sind Sie jetzt verwirrt? – Dann lesen Sie weiter!

HandMachen wir doch erst mal ein kleines Experiment. Dieser Test wird von Talent-Scouts im Leistungssport eingesetzt – dazu gleich mehr. Zunächst vergleichen Sie doch einfach mal Ihren Ringfinger mit Ihrem Zeigefinger. Welcher von beiden Fingern ist länger? Oder sind sie ungefähr gleich lang?

Wie wissenschaftliche Studien beweisen, zeigt der Längenunterschied zwischen Zeige- und Ringfinger, wie hoch die Konzentration des Hormons Testosteron während der Schwangerschaft im Mutterleib war. Je länger der Ringfinger im Vergleich zum Zeigefinger ist, desto mehr Testosteron war im Mutterleib vorhanden. Und dies hat sich direkt auf die Entwicklung Ihres Gehirns ausgewirkt!

Dazu muss man wissen, was in den ersten Wochen der Schwangerschaft im Mutterleib so alles passiert: In den ersten 8 Wochen entwickelt sich immer erst mal ein weiblicher Fötus – auch dann, wenn das Baby ein Y-Chromosom hat! So wird auch zunächst immer ein weiblich strukturiertes Gehirn angelegt. Das heißt: Es entstehen besonders viele Nervenverbindungen (Synapsen) in den Gehirnzentren, die für „typisch weibliche“ Kompetenzen zuständig sind: Kommunikation, die Wahrnehmung und Erinnerung von Gefühlen, Empathie (Wahrnehmung von Gefühlen bei anderen) sowie Aufbau und Pflege von Beziehungen. In einem weiblichen Gehirn sind auch die rechte und linke Gehirnhälfte stärker miteinander verbunden. Wenn es sich jetzt um ein weibliches Baby handelt (also ohne Y-Chromosom), entwickeln sich diese Gehirnstrukturen einfach ungestört bis zur Geburt weiter.

FtusAnders bei einem männlichen Baby: Sein Y-Chromosom sorgt für die Ausbildung männlicher Geschlechtsorgane, und nach 8 Wochen Schwangerschaft beginnen diese damit, Testosteron auszuschütten. Damit ändert sich einiges. Denn unter dem Einfluss des Testosterons entwickelt sich ab sofort ein männlich strukturiertes Gehirn: Dazu werden bereits vorhandene Synapsen in den Zentren für Sprache und Beziehungen wieder zurückgebaut (!). Stattdessen wachsen nun die Zentren stärker, die für „typisch männliche“ Kompetenzen zuständig sind: Bewegungsdrang, Denken in Strukturen und Systemen, räumliche Wahrnehmung, Konkurrenz-, Hierarchie-, und Territorialdenken. Die Verbindung zwischen der rechten und der linken Gehirnhälfte wird weniger stark ausgebildet als im weiblich strukturierten Gehirn.

Ein spannendes Phänomen: Zuerst wird von der Natur – sozusagen als „Grundeinstellung“ – ein weiblicher Mensch an¬gelegt. Später werden dann unter dem Einfluss von Testosteron diese Strukturen teilweise wieder zerstört. Die Natur könnte ja auch einfach auf den bereits vorhandenen „weiblichen“ Gehirnstrukturen aufbauen. Das tut sie aber nicht!

Übrigens: In ganz wenigen Ausnahmefällen (z. B. bei bestimmten Erbkrankheiten) schütten die Hoden des Babys im Mutterleib nicht genug Testosteron aus, um die oben beschriebene Kehrtwende einzuleiten. In diesen Fällen entwickelt sich trotz Y-Chromosom ein weibliches Baby!

Der britische Hirnforscher Simon Baron-Cohen unterscheidet zwischen Gehirnen des „E-Typs“ und des „S-Typs“. Der „E-Typ“ hat eine starke Fähigkeit zur Empathie; dagegen denkt der „S-Typ“ besonders gut in Strukturen und Systemen. Viele Frauen haben ein Gehirn des E-Typs und viele Männer ein Gehirn des S-Typs. Aber das sind nur Wahrscheinlichkeiten – es kann auch umgekehrt sein! Und es gibt natürlich unterschiedlich stark ausgeprägte S- und E-Gehirne, je nachdem wie stark die Hormonkonzentration im Mutterleib tatsächlich war. So glaubt Simon Baron-Cohen, dass Autismus – der viel häufiger bei Männern als bei Frauen auftritt – eine besonders extreme Form des S-Typs ist.

GehirnIn seiner Forschung hat Simon Baron-Cohen schon bei kleinen Kindern deutliche Verhaltensunterschiede festgestellt, die auf Gehirnstrukturen des E- oder S-Typs schließen lassen:

Die meisten kleinen Mädchen schauen schon kurz nach der Geburt verstärkt auf Gesichter und alles, was irgendwie wie ein Gesicht aussieht. Sie nehmen sehr früh Blickkontakt auf. Die meisten kleinen Jungen sind dagegen fasziniert von Bewegung, geometrischen Formen, und den Ecken und Kanten von Gegenständen (z. B. ein Mobile, eine Türklinke oder ein Spielzeugflugzeug).

Dieses unterschiedliche Verhalten ist schon früh nach der Geburt beobachtbar, und spätestens nach 6 Monaten ist es ganz deutlich.

Zurück zu unserem Fingertest: Wie gesagt wird dieser Test im Leistungssport eingesetzt, z. B. um Football-Talente frühzeitig zu entdecken. Ein Footballspieler, dessen Ringfinger deutlich länger als sein Zeigefinger ist, wird wahrscheinlich sehr erfolgreich im Spiel sein, da er ein sehr männlich strukturiertes Gehirn hat: gutes räumliches Sehen, Bewegungsdrang, Risikobereitschaft und eine Spaß an körperlicher Auseinandersetzung, die man für das Spiel braucht.

Das heißt nun für Sie: Wenn Ihr Ringfinger ebenfalls länger als Ihr Zeigefinger ist, haben Sie ein eher männlich strukturiertes Gehirn und haben einige der oben genannten Kompetenzen, auch wenn Sie kein Football spielen. Ist umgekehrt Ihr Zeigefinger länger als Ihr Ringfinger, haben Sie ein eher weiblich strukturiertes Gehirn, sind wahrscheinlich kommunikativ und empathisch begabt und interessieren sich nicht die Bohne für Football…

Und wenn bei Ihnen beide Finger ungefähr gleich lang sind, haben Sie sowohl männliche als auch weibliche Gehirnstrukturen. Sie sind möglicherweise gut in Kommunikation und gleichzeitig mathematisch und analytisch begabt. Laut Simon Baron-Cohen ist das leider nicht nur ein Segen: Seiner Meinung nach haben es eindeutig strukturierte S- oder E-Typen leichter im Leben als die „Mischtypen“. Beide Welten in einem Kopf zu haben ist zwar bereichernd, aber auch anstrengend. Denn die „männlichen“ und „weiblichen“ Strukturen konkurrieren untereinander und können sich gegenseitig blockieren.

Zu guter Letzt: Falls Sie sich fragen, wie sich bei einer Frau im Mutterleib männliche Gehirnstrukturen bilden können – auch im weiblichen Körper gibt es Testosteron! Es wird für viele wichtige Lebensfunktionen gebraucht und bei Frauen hauptsächlich in den Nebennieren produziert. Männer haben zwar zehnmal so viel Testosteron wie Frauen, aber auch Frauen haben genug davon…

Nun sind Sie dran:
Was hat Ihr Fingertest ergeben? Passt das Ergebnis zu dem, wie Sie sich selbst wahrnehmen? Wie würden Sie sich selbst einordnen: E-Typ, S-Typ oder dazwischen? Und wie können Sie dieses Wissen für sich nutzen – im Kontakt mit Frauen wie mit Männern?

Lesetipps:

  • Simon Baron-Cohen Frauen denken anders. Männer auch. Wie das Geschlecht ins Gehirn kommt Heyne, 2009
  • Louann Brizendine Das weibliche Gehirn – Warum Frauen anders sind als Männer Goldmann, 2008
  • Louann Brizendine Das männliche Gehirn – Warum Männer anders sind als Frauen Goldmann, 2011
  • John Coates The Hour between Dog and Wolf Risk Taking, Gut Feelings and the Biology of Boom and Bust The Penguin Press, 2012